Das glorreiche Hinscheiden der wunderbaren Mutter

Es nahte der von Gott bestimmte Tag, an dem die wahre und lebendige Arche des Bundes in den Tempel des himmlischen Jerusalem übertragen werden sollte, und zwar mit viel grösserer Glorie als ihr Vorbild, das Salomon unter den Flügeln der Cherubinen in das Heiligtum bringen liess.

 

Drei Tage vor dem seligen Hinscheiden versammelten sich die Apostel und Jünger im Saal zu Jerusalem. Als erster kam der heilige Petrus dort an, weil ein Engel ihn von Rom geholt hatte. Dieser hatte ihm verkündigt, dass der Tod der allerseligsten Mutter nahe. Der Herr habe ihm befohlen, dass er in Jerusalem dabei zugegen sein solle. Nach dieser Botschaft trug der Engel ihn von Rom nach Jerusalem, wo Maria in ihrem Bettkämmerchen weilte. Die Kräfte ihres Leibes hatten schon begonnen, den Kräften der göttlichen Liebe zu weichen. Je mehr sie sich ihrem Ziele näherte, desto mehr genoss sie die Wirkungen der Liebe.

 

Maria ging zur Tür ihres Betzimmers, um den Statthalter Christi zu empfangen. Auf den Knien bat sie um seinen heiligen Segen. «Ich danke Gott und lobe den Aller-höchsten», sagte sie, «dass Er mir meinen heiligen Vater sandte, damit der mir in der Stunde meines Hinscheidens beistehe.»

 

Darauf kam der heilige Petrus an, der Maria gleichfalls Ehrerbietung und Freude bewies. Die Apostel bgrüssten sie als Mutter Gottes, als ihre Königin und Herrin der Schöpfung. Der Schmerz jedoch, den sie dabei äusserten, war nicht geringer als ihre Ehrfurcht, da sie wussten, dass sie zum Abschied und zu ihrem Sterben gekommen waren.

 

Nach diesen beiden Aposteln erschienen auch die übrigen und die Jünger, die noch am Leben waren, so dass drei Tage vor ihrem Hinscheiden alle im Saal zu Jerusalem eintrafen. Die göttliche Mutter empfing sie mit tiefster Demut und Verehrung und begehrte von einem jeden den Segen. Alle segneten sie und begrüssten sie mit wunder-barer Ehrfurcht. Nach der Anordnung Mariä wurden alle von Johannes bewirtet und verpflegt. Jakobus der Jüngere halb ihm dabei.

 

Einige der Apostel, die von den Engeln herbeigebracht waren und von diesen den Grund erfahren hatten, betrachteten mit grosser Liebe und unter Tränen, dass ihnen ihre Hilfe und ihr Trost genommen werden sollte. Andere, besonders die Jünger, wusste nichts von Mariens nahem Scheiden. Sie hatten von den Engeln keine äussere Botschaft empfangen, sondern waren nur durch innere Eingebung und lieblich kräftigen Zwang angetrieben worden. Daraus erkannten sie, dass es Gottes Wille sei, nach Jerusalem zu reisen. Sie erzählten dies Petrus und baten um Aufklärung. Petrus als Oberhaupt der Kirche, sprach: «Vielgeliebte Söhne und Brüder! Der Herr hat uns aus einer wichtigen und für uns höchst schmerzlichen Ursache von weit her nach Jerusalem berufen. Er will bald seine allerreinste Mutter, unsern Trost und unsere Hilfe, zum Throne der ewigen Glorie erheben. Wir sollen alle bei diesem glorreichen Hinscheiden zugegen sein.

 

Als unser Meister und Seligmacher zur Rechten des ewigen Vaters aufgefahren ist, liess Er uns als verwaiste Kinder zurück, obgleich Er uns Seine allerheiligste Mutter als Zuflucht und wahren Trost gelassen hat. Aber jetzt wird unsere Mutter, das Licht unserer Augen, uns verlassen. Welche Hilfe wird uns werden und welche Hoffnung kann uns auf unserer Wanderschaft erquicken? Ich finde keine andere als die, dass wir nach und nach ihr folgen werden.»

 

Mehr konnte Petrus nicht reden, da ihm unter Tränen die Stimme versagte. Die übrigen Apostel konnten geraume Zeit nicht antworten. Sie seufzten aus innigstem Herzen und brachen in Tränen aus. Als der Statthalter Christi sich wieder gefasst hatte, fuhr er fort: «Liebe Brüder, lasst uns zu unserer Mutter gehen und bei ihr bleiben, so lange sie noch lebt. Wir wollen sie um ihren Segen bitten.» Alle begaben sich in das Betkämmerchen Mariä. Sie fanden sie kniend auf ihrem Lager. Alle sahen sie in himmlischen Glanze strahlen und umgeben von ihren tausend Schutzengeln.

 

Seit ihrem 33. Jahre haben das heiligste Antlitz Mariä und ihr jungfräulicher Leib nie eine Änderung erlitten. Die Wirkungen der Zeit und des Alters waren spurlos an ihr vorübergegangen. Sie war durch keine Runzel erstellt oder am Leibe abgemagert oder geschwächt. Dies Unverän-derlichkeit genoss allein Maria, einerseits weil es sich so wegen der Beständigkeit ihrer allerreinsten Seele geziemt, andererseits war das eine Folge ihres Freiseins von der Sünde Adams, deren Nachwehen die Seele und den Leib der jungfräulichen Gottesmutter nicht berührt haben.

 

Die Apostel und Jünger sowie einige andere Gläubige füllten das Betkämmerchen der gebenedeiten Jungfrau. Petrus und Johannes stellten sich an den oberen Teil der Bettstelle.

 

Maria sah alle mit gewohnter Ehrerbietung und Eingezogenheit an. Darauf sagte sie zu ihnen: «Meine liegen Söhne! Gebt eurer Dienerin die Erlaubnis, euch mein demütiges Verlangen zu eröffnen.» Petrus antwortete ihr, dass alle mit Aufmerksamkeit lauschen und ihrem Befehl gehorchen würden. Er bar sie, sie möge sich auf ihrem Ruhelager niedersetzen. Der Apostel fürchtete, dass sie von dem langen Beten in kniender Stellung ermattet sei. Zudem hielt er es für passend, dass die Königin und Herrin der Schöpfung sitzend zu ihnen spreche.

 

Maria antwortete, sie wolle gehorchen, und bat um den Trost ihres Segens. Sie stieg von ihrem Lager herab, kniet vor Petrus nieder und sagte:

 

«Mein Herr! Dich, das Oberhaupt der Kirche bitte ich, mir in ihrem und in deinem eigenen Namen den heiligen Segen zu erteilen und deiner Dienerin zu verzeihen, dass ich dir in meinem Leben so wenig gedient habe. Wenn es deinem Willen gemäss ist, so erlaube, dass Johannes meine zwei Kleider zwei armen Mägdlein zukommen lasse, deren Güte mich verpflichtet hat.»

 

Nach diesen Worten küsste sie die Füsse des Statthalters Christi unter Tränen. Alle Umstehenden waren voll Verwunderung. Von Petrus ging sie zu Johannes. Auch vor ihm kniete sie nieder und sagte: «Ich sage dir demütigen und erkenntlichen Dank für die Sorgfalt und Güte, mit der du mir als Sohn beigestanden hast. Gib mir deinen Segen auf den Weg zur Vereinigung und Anschauung dessen, der mich erschuf.»

 

So setzte Maria ihren Abschied fort und sprach zu jedem einzelnen Apostel, auch zu einigen von den Jüngern. Sie erhob sich sodann von der Erde und sprach zu allen Umstehenden: «Meine geliebten Söhne! Ihr seid meinem Herzen und in meiner Seele eingeschrieben. Ich habe euch geliebt mit jener Liebe, die mir mein göttlicher mitgeteilt hatte. Ihn sah und betrachtete ich beständig in euch als in Seinen auserwählten Söhnen. Seinem ewigen und heiligsten Willen gemäss fahre ich hinauf zu den himmlischen Wohnungen. Ich verspreche euch als Mutter, dort im Lichte der Gottheit euer zu gedenken.

 

Meine Mutter, die heilige Kirche, empfehle ich euch. Traget Sorge für die Erhöhung des Namens des Allerhöchsten, für die Ausbreitung seines Evangeliums. Achtet und schätzet hoch die Worte meines heiligsten Sohnes, pfleget das Gedächtnis Seines Lebens und Todes, lebt ganz nach Seiner Lehre! Meine Kinder, liebet die heilige Kirche und liebet einander von ganzem Herzen mit jener Liebe und in jenem Frieden, die euer Meister euch allezeit gelehrt hat. Und dir, Petrus, empfehle ich Johannes, meinen Sohn, und alle übrigen.»

 

Maria hörte auf zu reden, denn ihre Worte durchdrangen wie scharfe Pfeile göttlichen Feuers die Herzen der Apostel und der Umstehenden. Alle brachen in Tränen aus und warfen sich in heftigem Schmerz zur Erde nieder. Auch Maria weinte. Sie wollte so bitteren und aufrichtigen Schmerzen ihrer Kinder nicht widerstehen.

 

Nach einiger Zeit bat sie, alle möchten mit ihr und für sie stillschweigend beten. In dieser Stille stieg das mensch-gewordene Wort in unaussprechlicher Glorie vom Himmel nieder, begleitet von allen Heiligen und unzählbaren Chören himmlischer Geister. Das Haus des Abendmahles wurde mit Glanz und Herrlichkeit erfüllt. Maria betete den Herrn an und küsste ihm die Füsse. Ihm schenkte sie in ihrem sterblichen Leben den letzten und tiefsten Akt der Dankbarkeit und Demut. Ihr heiligster Sohn gab ihr Seinen göttlichen Segen, und in Gegenwart der himmlischen Heerscharen sagte Er zu ihr:

 

«Liebe Mutter! Nun ist die Stunde angebrochen, in der du vom sterblichen Leben zum ewigen, von der Welt zur Glorie Meines Vaters und der Meinigen auffahren wirst. Dort ist dir auf ewig zu Meiner Rechten dein Sitz bereitet. Wie Ich es bewirkte, dass du als Mutter frei von aller Schuld in die Welt eintratest, so hat der Tod bei deinem Hinscheiden aus der Welt weder das Recht noch die Erlaubnis, dich zu berühren. Wenn du nicht durch den Tod hindurchgehen willst, so komme ich mit Mir, liebe Mutter, damit du Meiner Glorie teilhaftig werdest, die du verdient hast.»

 

Maria antwortete freudigen Angesichts: «Mein Herr und mein Sohn! Ich bitte Dich, lass Deine Mutter wie die übrigen Adamskinder durch die gewaltsamen Pforten des natürlichen Todes zum ewigen Leben eintreten. Du, mein wahrhaftiger Gott, hast ohne irgendwelche Schuld den Tod erlitten. Es ist darum recht, dass ich Dir im Tode ähnlich werde, so wie ich mich bemüht habe, Dir im Leben nachzufolgen.»

 

Christus nahm das Opfer und den Willen Seiner gebenedeiten Mutter an. Alsbald begannen die Engel, einige Verse aus Salomon und andere neue anzustimmen. Über die Gegenwart Christi hatten nur Johannes und einige andere Apostel besondere Erleuchtung. Alle übrigen verspürten in ihrem Herzen göttliche und mächtige Wirkungen. Die Musik der Engel aber nahmen mit den äusseren Sinnen sowohl die Apostel und Jünger, wie auch viele der umstehenden Gläubigen wahr. Es ergoss sich ein himmlischer Duft, der samt der Musik in die offene Gasse hinausdrang. Das Haus des Abendmahles erfüllte sich mit wunderbarem Glanze, den alle sahen. Der Herr bewirkte, dass zum Zeugnis dieses wunderbaren Wunders eine grosse Volksmenge in Jerusalem zusammenlief und die Strassen füllte.

 

Als die Engel ihre Musik anstimmten, legte sich Maria auf ihrem Lager nieder. Sie faltete ihre Hände und heftete ihre Augen unbeweglich auf ihren heiligsten Sohn. Sie loderte ganz und gar in den Flammen ihrer göttlichen Liebe. Als die himmlischen Geister aus dem zweiten Kapitel des Hohenliedes die Worte sangen: änH

 

«Stehe auf, eile, meine Freundin, meine Taube meine Schöne! Eile und komm! Der Winter ist vorüber» und so weiter, sagte Maria die Worte, die Christus, ihr göttlicher Sohn, am Stamme des Kreuzes gesprochen hatte:

 

«Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist!»

 

Dann schloss sie ihre jungfräulichen Augen und gab ihren Geist auf. Die Krankheit, die ihr das Leben nahm, war allein die Liebe. Dieser Liebestod vollzog sich durch die göttliche Allmacht.

 

Diese zog die wunderbare Hilfe zurück, durch die sonst die natürlichen Kräfte Mariä gestärkt wurden, dass sie durch die Glut der Liebe nicht ausgelöscht wurden. Nun aber gewann die Liebe ihre völlige Wirkung, und das natürliche Leben schwand.

 

Ihre reinste Seele flog aus dem jungfräulichen Leib geradewegs zur Rechten ihres allerheiligsten Sohnes, wo sie mit unermesslicher Glorie auf den Thron gesetzt wurde.

 

Im gleichen Augenblick bemerkte man, dass sich die Musik der himmlischen Geister durch die Luft entfernte; denn die Engel und Heiligen begleiteten ihren König und ihre Königin in schönster Ordnung.

 

Der heiligste Leib der göttlichen Mutter, der ein Tempel und Heiligtum des lebendigen Gottes war, blieb voll Glanz zurück und verbreitete einen so wunderbaren Duft, dass alle Umstehenden davon entzückt und innerliche ergriffen waren. Die tausend Schutzengel der allerseligsten Jungfrau wachten bei dem unvergleichlichen Schatz des jungfräulichen Leibes.

 

Unter Tränen des Schmerzes und unter Jubel über die erlebten Wunder standen alle Anwesenden eine gute Weile erstaunt da. Dann sangen sie Psalmen zu Ehren der wunderbaren Mutter.

 

Das glorreiche Hinscheiden Mariä vollzog sich an einem Freitag, um drei Uhr nachmittags, in der Stunde des Todes ihres göttlichen Sohnes, am 13. August, 26 Tage vor dem siebzigsten Jahr ihres Alters. Nach dem Tode Christi hat die göttliche Mutter noch 21 Jahre, 4 Monate und 19 Tage gelebt.

 

Beim Tode der Himmelskönigin ereigneten sich grosse Wunder. Die Sonne verfinsterte sich und verhüllte etliche Sunden ihr Licht zum Zeichen der Trauer. Viele Vögel flogen zum Abendmahlshaus und bewegten durch wehevollen Gesang und durch ihre Stimmen alle Zuhörer zu ähnlichen Klagen. Ganz Jerusalem erstaunte und bekannte die Allmacht Gottes und die Hoheit Seiner Werke. Andere gerieten ausser sich.

 

Viele Kranke eilten herbei, und alle wurden gesund. Alle Seelen, die im Fegefeuer weilten, wurden befreit.

 

Das grösste Wunder aber war dieses:

In der Todesstunde Mariens verschieden drei Personen ohne Busse in der Sünde, ein Mann in Jerusalem und zwei Frauen in der Nähe des Abendmahlshauses. Als sie nun vor dem Richterstuhl Gottes standen, bar Maria für sie um Barmherzigkeit. Alle drei wurden zum Leben erweckt. Darauf besserten sie sich so, dass sie in der Gnade starben und zur ewigen Seligkeit gelangten. Eine solche Gnade empfingen jedoch nicht alle, die an diesem Tage starben, sondern nur jene drei Personen.